Fracasso hat in stetem Fortschreiten und in unaufhörlicher Auseinander-
setzung mit der eigenen Kunst, aber auch den Traditionen, denen sie entspringt, seine Ausdrucksmittel verfeinert und so den Weg zu dem gefunden, das (mangels anderer Worte) nun als "Concrescismo II"
firmiert.
Die Unterschiede zur ersten Periode des "Concrescismo" fallen sofort ins Auge. Noch stärker als bisher sind malerischer Ausdruck und gemeinte Bedeutung zusammengewachsen. Die Bedeutung wird jetzt
ganz über die Gestaltung, die malerischen Ausdrucksformen also, transportiert. Zeichnerische Form, Farbgebung, Licht- und Schattenverteilung: dies alles muss zusammen gesehen werden und ist nun auch
für den Betrachter nicht mehr zu trennen.
Was der Betrachter nicht mehr unbedingt sieht, ist die Genese des Bildes, die genau diese Dreistufigkeit
durchläuft. Zunächst zeichnet Fracasso das Thema fast abbildlich, indem er sich strikt an die von ihm zitierte Vorlage (sofern er eine benutzt) hält. Erst dann setzt der Prozess der
Abstraktifizierung ein: mit Bleistift werden Linien und Konturen verfestigt, und die abbildlichen Elemente verschwinden zugunsten einer raumschaffenden Anordnung von Kuben unterschiedlicher Form, in
denen Ausdruck zu nichts wird als zu einem malerischen Zeichen. Dann kommt Schritt für Schritt die Farbe auf das Bild, und schließlich sorgt Fracasso für eine Umriss- und Schattenverteilung, die die
angestrebte Mehrdimensionalität seiner Malerei zum nur noch in Formsprache gefassten Ausdruck bringt.
Damit hat sich die Frage nach dem Gegensatz von "figürlicher Malerei" und "avantgardistischer Abstraktion" erledigt. Beide sind aufgesogen in den verdichteten Gestaltungskanon Fracassos, der
gleichzeitig einen Raumgewinn unerhörter Art darstellt.
Während Lucio Fontana (vgl. Abb. 3) mit seinem Spazialismo sich eher vom Material leiten lässt und etwa durch die berühmt gewordenen Schnitte in die Leinwände auf einer Oberfläche, die keine
räumlichen Elemente enthält, durch das Zerschneiden das Hindernis der Zweidimensionalität zu überwinden trachtet, weist Fracasso diesen romantischen Gestus (nach längerer Auseinandersetzung mit
diesem Weg) bewusst zurück. Er holt gleichsam die Tiefe des Raums wieder in das Bild hinein, im Vertrauen auf das malerische Handwerk und die Möglichkeiten von Form, Farbe sowie Licht und Schatten.
Die Dynamik des Raums wird dabei nicht aufgehoben, sondern noch verstärkt (vgl. etwa die 'Sixtinische Madonna', Abb. 5).
Das zentrale Mittel, das Fracasso nun einsetzt, ist die Fraktur. Ein früherer Symbolträger, die Bälle, ist nun aus den Bildern verschwunden. Dahinter verbirgt sich auch eine Krise des Malers. Bälle
verstand Fracasso stets als Zeichen des Glücks und der Vollkommenheit, und indem er ihnen einen Schwerpunkt und die richtige Schattierung gab, waren sie in ihrer Einfachheit unüberbietbar.
Fracasso hat sich sehr kritisch mit seinem Wunsch nach Harmonie auseinandergesetzt. Dies drückt sich in seinen neuen Bildern vehement aus: Die früher großen Flächen
verfallen, gleiten abwärts (seltener aufwärts), verschränken sich in
unterschiedlichen Winkeln, eröffnen so Mehr- dimensionalität und Tiefe. Gleichzeitig aber drücken sie unmittelbar Instabilität aus. Die Figuren haben gleichsam ihren Halt verloren; die plane Ebene
ist verschwunden und hat Platz gemacht einer Zerstörung von Vertrautheiten, in denen sich allzu bequem einnisten lässt.
Dabei gilt auch für Fracasso (wie für jeden guten Maler), dass das, was ihm durch den Kopf geht (Bedeutung der Bilder) nicht notwendig die malerischen Mittel steuert, sondern auch umgekehrt: es
werden malerische Mittel ausprobiert, die dann neue Bedeutungen aus sich hervorbringen. So bevorzugt Fracasso das Dreieck, das den Schatten nicht im Zentrum, sondern in der Regel außer sich hat. Es
findet sich in eine Bewegung von geschwungenen Linien transfiguriert die meist "davor" liegen: die Oberfläche zerbirst, und das eigentliche Zeichen erscheint (z.B. ein Mensch).
Doch die italienische Tradition wird gewahrt, nicht nur in den Themen. Wieder ist es die Farbgebung mit ihren Entgegensetzungen oder Hierarchien, die noch im rätselhaften Code der Zerstörung die
Sehnsucht nach Heilung durch Schönheit nicht untergehen lässt (vgl. Abb. 6, "Kopfschmerz").
Die Bilder sind also nicht widersprüchlich, aber in sich spannungsvoll: sie zeigen (wie ganz anders schon Chirico) eine entfremdete Welt (Abb. 7), aber Form und Farben machen den Zerfall nicht zur
tristen Proklamation von Weltuntergang, sondern bewahren das Prinzip Hoffnung. Nur: jetzt ist es ganz in den künstlerischen Ausdruck eingegangen.
Das Zerfließende, Offene, Ungeordnete ist nicht Fracassos Sache. Noch in der Instabilität sucht er das Prinzip einer Ordnung im Bau einer Welt, die immer neue Varianten aus sich hervorbringt und
zulässt, aber doch in ihren Bauprinzipien erkennbar, durchschreitbar bleibt. Hinzu kommt die Reintönigkeit der Farben (im Gegensatz etwa zu Sironis "Autoritratto", 1913 (vgl. Abb. 8).
Fracassos Botschaft ist (wenn es erlaubt ist, so etwas zu sagen): Eine 'Natur des Menschen' gibt es nicht als sichtbare. Ein 'seelenvoller Gesichtsausdruck' etwa ist für Fracasso nichts als ein
Klischee, verbrauchtes Material. Wiedererkennen lassen sich zitierte Figuren schon, aber nur über die malerischen Mittel (" (Abb. 9) als farbiges Mosaik lesbar, das in seiner Verschlungenheit
sozusagen in der Form das formuliert, was Thema des Bildes ist: dass Europa zu verbinden sei, und dies nicht nur technisch (für den Transport von Öl etwa).
Besonders hinzuweisen ist hier auf die Portraits, die Fracasso in Anlehnung an jeweils gemalte Vorbilder entwirft. Dürers berühmtes Selbstbildnis (Abb. 10) wird in Form, Farbe und Ausdruck in
Fracassos Sprache "umgesetzt" (Abb. 11). Immer wieder verblüffend ist es, wie es Fracasso gelingt, von einer Zit"Sixtinische Madonna" (Raphaels Vorbild befindet sich bekanntlich in Dresden) ist auf
das eigentliche Thema, die Madonna reduziert, hier eine Travestie der Himmlischen Süße, die in das Vorbild hineingelesen wird. Die Farbproportionen werden in Fracassos neue Welt übertragen, aber in
welch schockierender Weise! Auch eine Madonna muss sich eben auf ihre Vollkommenheit befragen lassen.
Verschlüsselung ist die Freude des Malers, Verschlüsselungen zu entdecken die Lust des Kenners. Nehmen wir das berühmte Bild 'Goethe in der Campagne' (vgl. Abb. 12). Auch hier ist Fracasso eine
vollkommene Transformation gelungen, die freilich dem nur aufs Wiedererkennbare fixierten Betrachter vollständig verborgen bleiben muss. Damit hat sich Fracasso endgültig davon entfernt, Bilder
anzubieten, die dem Betrachter auf den ersten Blick gefallen wollen. Ihre malerischen Valeurs, ihre Reize und Differenziertheiten entschlüsseln sich erst beim genauen Studieren. Oder, nehmen wir das
schwarz-weiße Dreieck (Abb. 1): hier ist ein Bauelement, das sich in den anderen Bildern präsentiert, stofflich isoliert und aus dem Zueinander anderer Dreiecke und Kuben herausgenommen. Wer immer
noch nach 'Ausdruck' im romantischen Sinn sucht, ist hier darauf verwiesen, dass "die Sache selbst" - eben Sache ist.
Fracasso malt keine Landschaften, weil alle Figuren Landschaften sind. Und: er findet alle Ausstellungen grundsätzlich problematisch, weil jedes Bild viel Platz braucht, gleichsam die schweigenden
Wände um sich herum, die auf das eine Bild zurückverweisen und oberflächliches Sehen, das schnuppernde Hin- und Herwenden des Blicks nicht möglich machen. Jedes Bild muss nämlich eine Welt enthalten
und für sich selbst stehen können. Ein Entwurf von Welt ist dabei immer auch eine Deutung von Welt. Welche dies endgültig sei, kann Sprache nicht verraten - die Präzision der bildnerischen Gestaltung
spricht hier Bände.
Dieter Baacke
Verdichtung und Raumgewinn